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Sachsen, das Land der Mitläufer

Sachsen, das Land der Mitläufer

Chemnitz, 28. August 2018. Von Thomas Beier. In den vergangenen Tagen Unruhen in Chemnitz: Plötzlich das Gefühl, als ob sich das einst so stolz gebende Sachsen in Richtung Bürgerkrieg bewegt. Der Versuch einer Analyse.

"Es ist widerlich, wie Rechtsextreme im Netz Stimmung machen und zur Gewalt aufrufen. Wir lassen nicht zu, dass das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird", verkündete der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer gestern in einem vom CDU-Landtagsabgeordneten Stephan Meyer geteilten facebook-Bildchen, inklusive Quellenangabe dpa, und offenbart damit ein technokratisches Amtsverständnis: Das Problem ist doch nicht das ramponierte Image des Freistaats, der so gern ein "Land von Welt" sein möchte, nein, das Problem besteht darin, dass sich in einer Stadt wie Chemnitz spontan sehr viele Mitläufer finden, die sich einem Demonstrationszug anschließen, in dem unter anderem "Nationaler Sozialismus!" skandiert wird. Rechtsextreme machen nicht mehr nur im Netz oder unter Ihresgleichen Stimmung, sondern treten unverhohlen auf der Straße auf, sind für viele Sachsen salonfähig geworden.

Viel hat der Zweite Weltkrieg vom Chemnitzer Stadtzentrum nicht übrig gelassen, doch mit viel Elan entwickelt sich die ehemals sozialistische Vorzeigestadt seit vielen Jahren ausgesprochen dynamisch. Neben der Wirtschaft profitieren Kunst und Kultur
Viel hat der Zweite Weltkrieg vom Chemnitzer Stadtzentrum nicht übrig gelassen, doch mit viel Elan entwickelt sich die ehemals sozialistische Vorzeigestadt seit vielen Jahren ausgesprochen dynamisch. Neben der Wirtschaft profitieren Kunst und Kultur


Die Frage ist also, wie die national-sozialistische Gesinnung in Sachsen wieder Fuß fassen und eine aktive Szene samst Mitläufern hervorbringen konnte.

Die Typen, die sich heute auf der Straße den Ruf "Wir sind das Volk!" zu eigen machen möchten, haben das 1989 sicherlich nicht gerufen, wohl aber 1990 "Wir sind ein Volk!", nicht mehr getragen vom Willen zur gesellschaftlichen Gestaltung, sondern geblendet von der Kraft der D-Mark. Wer, ohne Sozialist zu sein, auf die negativen Seiten des kapitalistischen Systems hinweisen wollte, kam nicht mehr zu Wort. Das waren doch schöne Bilder, als ein bewegter Helmut Kohl in Dresden eine Meer von Deutschlandfahnen erleben durfte, nicht wahr?

Um in der implodierten "DDR" keine Experimente entstehen zu lassen, waren die Einführung der D-Mark und die deutsche Wiedervereinigung eine schnelle Lösung - für die einen eine Befreiung und der Zugang in eine Welt voller Möglichkeiten, für die anderen lediglich ein Sprung zu deutlich höherem materiellem Wohlstand. Der neue Wohlstand blieb auch, als viele Betriebe im Osten schließen mussten, weil sie technologisch nicht mehr haltbar waren, weil sich Betriebskollektive gegen die neuen Anforderungen stemmten, weil sie als Konkurrenz ausgeschaltet wurden. Mit Kurzarbeit Null und anschließendem Arbeitslosengeld lebte es sich noch immer deutlich besser als unter den SED-Sozialisten. Besonders glücklich waren jene, deren Betriebe, jetzt eingegliedert in Konzerne, ohne Brüche weitergeführt wurden. Auch wurden einzelne Betriebe von ost- oder westdeutschen Managern weitergeführt oder neu aufgebaut.

Bei jenen aber, oft gering oder nicht mehr passend Qualifizierten, die der Arbeitsmarkt wegen ihrer Unflexibilität ausgespuckt hatte, dauerte es teils zwei Jahrzehnte, bis sie begriffen, dass ihre alte Arbeitswelt nicht wiederkommt. Sie wurden in Bildungs- und sogenannten Aktivierungsmaßnahmen geparkt, zu Bewerbungen ohne Erfolgsaussicht verpflichtet, bis jede Motivation erlosch.

Zeitsprung: 2006, Fußball-WM, Deutschland im Rausch seiner Nationalfarben. Noch wurde der "neue Patriotismus" und wachsende Nationalstolz der Deutschen auch im Ausland positiv registrtiert, zumal er damals den Rechtsextremen und Chauvinisten keine Teilhabe bot. Ein wenig paradox ist das schon: In einem Europa, dass die Nationalstaaten alter Prägung überwinden möchte, werden via Sport noch immer nationale Gefühle gepuscht - und dass Nationalismus und Rechtsextremismus einander anziehen, ist bei der Betrachtung eines Teils der Fußballszene gut nachvollziehbar und spielte in den vergangenen Tagen in Chemnitz eine Rolle.

Was sich in den vergangenen Tagen in Chemnitz auf der Straße kulminiert hat - ausgerechnet Chemnitz, nicht nur Stadt des Maschinenbaus und der Wissenschaften, sondern auch Stadt der Moderne, der Kultur und der Künste - führt die geschilderten Entwicklungen zusammen: Die von Neid auf Besserverdienende gezeichnete soziale Enttäuschung und das neu gezüchtete Nationalgefühl, in Sachsen sekundiert von einer ausgeprägten Heimattümelei, die nicht nur vom öffentlich-rechtlichen Mitteldeutschen Rundfunk geschürt wird, sondern inzwischen Staatsdoktrin ist.

Das Salz zu dieser trüben Suppe liefern die gewählten Volksvertreter selbst: Unverschämte Diätenerhöhungen im Bundes- wie im Landtag und die durchgepeitsche drastische Erhöhung der Parteienfinanzierung haben das Wahlvolk auf Distanz gehen lassen. Noch ist Sachsen zu großen Teilen CDU-Land. Die Sächsische Union ist dank treuer Gefolgschaft handlungsfähiger als andere Parteien, arbeitet aber unter ihrer in Sachsen gelinde gesagt besonders konservativen Ausrichtung eher rechten Kräften in die Hände. Ein innerparteilicher intellektueller Diskurs ist nicht bemerkbar. "Seehofer hat Recht!", verkündete ein erzgebirgischer CDU-Bundestagsabgeordneter im Web und spricht so in drei Worten Bände über sein Denken.

Dass die gesellschaftliche Karre so tief im Dreck steckt, hat auch mit dem stehenden Heer der Langzeitarbeitslosen zu tun. Integrationsmaßnahmen gingen schon deshalb nach hinten los, weil sie "Ein-Euro-Job" oder "Ein-Euro-Fünfzig-Job" genannt wurden und damit den Arbeitslosen vermittelten, sie müssten nun für einen Stundenlohn von einem oder einem anderthalben Euro arbeiten, obgleich oft das Gesamteinkommen inklusiver aller Hartz-IV-Bezüge über dem manches Vollbeschäftigen lag. Niedriglohngebiete, Hartz IV als anerkannter, bemitleidenswerter sozialer Status, auch das ist Sachsen. Nun muss man Schwächen nicht ständig hervorheben, aber wenn sie zu Risikofaktoren - und das verfestigte, eher bildungsferne Hartz-IV-Millieu ist einer - werden, muss man überlegen, wodurch gewollte Verbesserungen ausgebremst werden.

Zurück nach Chemnitz: Es sind ja nicht nur Chemnitzer, die das hasserfüllt durch die Straße gezogen sind. "Solidaritätsbekundungen" und "Wir kommen auch!"-Meldungen kann jeder im Netz nachvollziehen. Gefragt sind jetzt jedoch vor allem die anständigen Chemnitzer, gegen Menschenfeindlichkeit, Pöbelei und Gewalt aufzutreten. Das geht im persönlichen Gespräch, das geht im Internet, auf Demonstrationen, auf Versammlungen oder indem man an seine Zeitung schreibt. Nur so kann Leuten, die dem zutiefst menschlichen Herdenverhalten folgen, das immer an Macht gewinnt, wenn die mangelnde eigene Weltsicht durch die eines "Führer" ersetzt wird, klarmachen, dass sie den sozialen Normenbereich unserer Gesellschaft verlassen.

Eine Weltsicht, die sich nur aus der Übernahme von zur eigenen passenden Meinungen und damit aus Bestätigung speist, ist nichts wert. Gefragt ist vielmehr Meinungsbildung aus eigenem Wissen und höchstpersönlicher Erfahrung, die einhergeht mit dem Zulassen von Widersprüchen und Problemen.

Wer so denkt, erkennt, dass ein gesellschaftlicher Standpunkt nichts mit links oder rechts oder Parteien zu tun hat. Mit einem eigenen Weltbild aber, das nicht nur blinde Gefolgschaft und Nachplappern von Behauptungen ist, kann sich jeder gern einbringen in unsere Gesellschaft, im Ehrenamt, in Parteien, Vereinen oder von mir aus auch dafür demonstrieren.

Mehr:
WELT berichtet aus Chemnitz in den vergangenen Tagen

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